Die Kreativarbeit war verzweifelt.
Ihr fehlte die Idee. Sie überlegte und
überlegte. Hin und Her. Tag und Nacht.
Im Sitzen und im Stehen.

Bis ihr im Kopfstand auffiel, dass ihr
Problem gar nicht die Abwesenheit der
Idee war. Es war etwas ganz anderes.

Es war die Zeit.

 
 

Aus dem toten Winkel tanzte sich die Uhr ins
Blickfeld der Kreativarbeit. Die Stunden und
Minuten grinsten herab. Zeigten ihr die Zunge.
Steppten rhytmisch am Ziffernblatt, während
die Zeiger im Eiltempo im Kreis liefen und
dabei Windgeräusche erzeugten.

Die Kreativarbeit wandte ihre Augen ab.

 

Sie blickte an sich hinunter.
Was sie da sah, gefiel ihr nicht.
Gar nicht.

G-ä-h-n-e-n-d-e, weiße Leere.
Und Weiß hatte ihr noch nie gefallen.

Wenn sie eine Hand gehabt hätte, hätte sie
sich einen Pinsel geschnappt, ihn in Farbe
getupft und sich damit selbst bemalt. Farben.
Sie schwebte vor sich hin und dachte an
all die Farben, die in ihren Gedanken zu
Hause waren. Wolkenweiß. Stammbraun,
Sandbeige, Asphaltgrau. Postgelb, Blattgrün,
Halbreifetomatenorange. Hyazinthenrosa.

 
 

Die Kreativarbeit bemerkte, wie aus Himmelblau
Himmelschwarz wurde und eilte zu ihrem
Abendtee. Denn ohne Tee kein Abend.

Der Tee, den sie mit geschlossenen Augen
aus ihrer Teekiste gezogen hatte, duftete nach
Lavendel, Orange, Curry, Minze und Honig.
Sie hinterfragte nicht, ob ihr das überhaupt
schmecken würde, sondern legte sich auf den
Rücken und lauschte den Sternen.

 

Bis der Mond mit seiner tiefen Stimme alle zur Ruhe brachte und es still wurde.

Viel zu still.

 

Zum zweiten Mal dachte die
Kreativarbeit daran, wie schön
es wäre, Hände zu haben.

Auf einmal kribbelte es in ihr.
Sie musste niesen. Und plötzlich
stand sie vor ihr. In all ihrer Pracht.
Die Idee.

 

Die Kreativarbeit konnte ihr Glück
nicht fassen und lachte bis ihr die
Tränen kamen. Doch die Idee hob nur
ihre Hand, schaute streng hinter ihren
vielen Locken hervor und sprach kaum
hörbar: „Warum suchst du dir nicht
jemanden, der dir Hände malen kann?!“

Die Kreativarbeit wollte ihren Ohren nicht
trauen. Die Enttäuschung überschwemmte
sie – wie die Wellen den Sand am Strand,
wie der Nebel die Täler. Wie die Tauben das
Weißbrot. Sie stampfte mit ihren kleinen
Füßen auf.
Zuerst vorsichtig. Dann immer
immer immer energischer, bis sogar der
Mond auf sie herabblickte.

 
 

Bis der Boden unter ihr nachgab
und sie fiel.

Sie fiel und fiel und fiel.

 

 

 

 

 
 

Sie fiel und fiel und fiel.

Der Wind beutelte sie, der Regen
wellte sie. Die Äste, auf denen sie
schlussendlich aufschlug, ärgerten
sich über die Störung. Durch ihren
Widerstand gebremst, schwebte die
Kreativarbeit langsam zu Boden.

Sie blickte an sich herab.
Weiß.

 

Aber nicht mehr nur Weiß.

Die Äste hatten sie mit Streifen
beschenkt, die Wiese einen Fleck
hinterlassen. Sie musste lachen.
Fröhlich rappelte sich die Kreativarbeit
auf und stapfte durch das Gras – ohne
weiter darüber nachzudenken, was
vorher war. Vor ihrem Fall.

Sie setzte einen Fuß vor den anderen.
Und den anderen vor den einen. Und
so weiter. Bis das Gras unter ihren
Beinen zu Erde wurde und die Erde
wieder zu Gras

 
 

Plötzlich stolperte sie. Wurde gestolpert.
Etwas überrollte sie. Die Kreativarbeit
erkannte nicht was.

Gerade als sie sich wieder aufrichten
wollte, senkte sich ein Fuß auf sie herab
und hinterließ einen wiesen-grünbraunen
Abdruck auf ihrem nicht mehr ganz so
weißem Weiß. Ohne sich richtig über die
neue Farbe freuen zu können, schaffte sie
es, wieder auf die Beine zu kommen.

 
 

Die Kreativarbeit wollte nicht
noch einmal gestolpert werden.
Nicht noch einmal wieder
aufstehen müssen. Sie wollte
sich verstecken.
Vor Füßen.
Vor Rädern und Bällen.
Vor der Sonne. Sie blickte sich um.
Sah etwas Großes in der Ferne.

Um sich für den Sprint zu motivieren,
dachte sie an Löwen und Bären
und Geparden, an Geier und an
Haie. Und sie rannte. Ganz schnell.
Gepardenschnell.

 
 

Unter dem großen Etwas,
möglicherweise ein Tisch (oder ein
sehr windschlüpfriges Holzhaus),
war es angenehm kühl. Die Kreativarbeit
atmete tief ein und aus.
Genoss es,
einfach nur zu atmen.
Ein und aus.

Bis es auf einmal hinter ihr zu ticken
begann.

Tick.

Tock.

Tick-tock.

 

Die Kreativarbeit musste sich nicht
umdrehen. Sie wusste, wer ihr da
im Nacken saß.

Es war die Zeit.

 

Die Kreativarbeit wünschte sich, die Uhr
wäre mit ihr durch den Boden
gebrochen und vom Himmel gefallen.
Wäre auf der Erdoberfläche zerschellt.
Wie ein Eiszapfen.

 

Doch dem war nicht so und weil
die Kreativarbeit nicht in der
Vergangenheit schwelgen wollte,
stand sie auf. Ließ die alternativen
Realitäten, die für immer in der
Vergangenheit gefangen waren,
hinter sich. Trat unter dem Tisch
hervor und wurde von einer kleinen
Hand gepackt.

Auf die Tischplatte geschleudert.
Flach gedrückt.

 
 

Die Kreativarbeit traute sich nicht zu
atmen. Sie lag ganz still da. Spürte
einen Stich. Als sie langsam, achtsam,
wachsam ihren Blick auf die stechende
Stelle fokussierte, sah sie eine
Buntstiftspitze. Die Spitze begann zu
tanzen und wurde schon bald von einer
zweiten Spitze beim Spitzentanz begleitet.
Wurde ausgetauscht, mit einer anderen
Spitze. Mit einer noch anderen Spitze.

Viele Spitzen später schallte es:
GIB DAS WEG!
DAS IST JA GRINDIG!

Eine große Hand entriss sie den
Spitzen und schleuderte die
Kreativarbeit weg.

 
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Sie flog.

Flog weiter.

 

Flog mit Krähen.

 

Flog mit Wolken.

Während dem Flug bemerkte sie,
dass sie Arme hatte. Delphinblaue,
verschnörkselte Krakelarme, die im
Wind flatterten. Und Finger. Drei Stück.
Erdbeerrot.

Die Kreativarbeit war glücklich.
Überglücklich. Überdrüberglücklich.
Sie strahlte mit der Sonne um die Wette.
Bis die Sonne schlafen ging und es
dunkel wurde.

 

Erst als die Sonne, vom frühen Vogel
aufgeweckt, wieder auf den Himmel
kletterte, kam die Kreativarbeit zu Hause an.

Sie ging stolz, selbstsicher, drakonisch in
ihre Gedankenstube und griff nach der Uhr.
Mit ihren Fingern. Ihren Fin-ger-n.
(Drei Stück. Finger.)

 

 

Sie holte aus und ließ die Zeit fliegen. In großem Bogen durchs Gedankenstubenfenster auf und davon.

Zufrieden blickte die Kreativarbeit an sich herab. Kein bisschen mehr
Weiß.

 

 
 
 
 
 
 
 
 

 

Sie lachte.
Laut und lang.
Fröhlich und frei.

Und die Idee?

Die brauchte sie jetzt nicht mehr.

 
 
 

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